von Anna Czerny I
Wenn wir Scrum4Schools in Trainings für Lehrer:innen vorstellen, hören wir manchmal zweifelnde Fragen wie: „Und was ist, wenn sie das nicht können?“ „Was, wenn sie die Freiheit überfordert?“ Aber ist Schule nicht genau dafür da? Wenn wir unseren Kindern und Jugendlichen heute nicht beibringen, eigenverantwortlich mit Freiheit umzugehen, dann werden sie später kein selbstbestimmtes Leben führen.
Sicherheit oder Freiheit?
Viele Eltern kennen das: Das Kind klettert – sei es am Klettergerüst am Spielplatz oder über Baumstämme im Wald – und wir sind nah bei ihm, strecken die Arme schützend aus, um es im Falle eines Sturzes sicher aufzufangen. Der Arm, in bester Absicht ausgestreckt, um Sicherheit zu vermitteln (vielleicht mehr für die Eltern als fürs Kind), sagt: „Ich trau es dir nicht zu. Falls es schief geht, stehe ich schon hier.“ Es ist ein ganz natürlicher Impuls, das Kind zu schützen. Aber wie soll das Kind lernen, an sich selbst zu glauben und sich etwas zuzutrauen, wenn die Absturzsicherung parat steht? Wie soll es lernen, Risiken einzuschätzen, wenn es keine gibt?
Raus aus der Komfortzone, rein in die Stretch Zone – hier lernen wir!
Wie schon am Spielplatz ist auch das spätere Leben eine Gratwanderung zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Bequemlichkeit und Lernmöglichkeiten. Wenn ich mich mit Dingen beschäftige, die ich schon weiß und kann, fühle ich mich sicher. Ich bin in meiner Komfortzone. Beschäftige ich mich mit Dingen, die mir fremd sind, kann Unsicherheit entstehen. Hier bin ich in der sogenannten Stretch Zone. (Ich bin bewusst beim englischen Begriff geblieben. Die deutsche Übersetzung in „Stresszone“ ist unglücklich, da „Stress“ v.a. negativ besetzt ist.) Nur hier lerne ich Neues. Warum verlassen nicht alle Menschen ihre Komfortzone und lernen?
„Lernen verunsichert und destabilisiert.” Christoph Schmitt in seiner Keynote auf der (Un)Conference Freiräume am 11.11.2020
Ob wir lieber in der Komfortzone bleiben und diese Unsicherheit vermeiden oder ob wir Lust haben, uns in die Stretch Zone zu begeben und uns auf „Lern-Abenteuer“ einzulassen, hat viel mit unserer persönlichen „Lern-Biografie“ zu tun. Auch darum ist es so wichtig, dass Lernen für unsere Kinder zu einer positiven, stärkenden Erfahrung wird. Wenn wir – Eltern, Lehrpersonen, Mentorinnen und Mentoren – uns als ihre Wachstumsbegleiter verstehen, kann dies gelingen.
Wer hat mich wachsen lassen?
Ich erinnere mich noch gut an meinen Jobeinstieg nach dem Studium. Zwar hatte ich zuvor schon viel Praxiserfahrung gesammelt, doch die neuen Aufgaben überforderten mich. Schon nach wenigen Tagen ließ mich mein Vorgesetzter mit einer Aufgabe allein und schmiss mich ins eiskalte Wasser. Kein Rettungsanker weit und breit, ich musste schwimmen. Zunächst war ich verunsichert und wusste nicht, wo anfangen. Aber im Tun lernte ich viel und mit Sicherheit mehr, als wenn er mir den Weg vorgegeben hätte. Ich lernte dazu und war um ein Erfolgserlebnis und eine Portion Selbstvertrauen reicher.
Wann haben Sie am meisten gelernt? Wann war Ihre Lernkurve am größten? Hat Sie schon einmal jemand „ins kalte Wasser gestoßen“? Vielleicht haben Sie diesen Jemand verflucht, weil er Sie in eine unbequeme Situation gebracht hat. (Sie erinnern sich: Lernen verunsichert und destabilisiert.) Doch dieser Jemand hat an Sie geglaubt. Er oder sie hat Ihnen etwas zugetraut, Ihnen Lernen ermöglicht und Ihre Entwicklung unterstützt – so wie mein Vorgesetzter damals.
Es sind Eltern, Lehrer:innen, Mentor:innen sowie Führungskräfte, die uns durch ihren Glauben an uns wachsen lassen. Sie sind es, die uns, zumindest für eine gewisse Zeit, mehr zutrauen als wir uns selbst. Und dieses gespürte Zutrauen ist kraftvoll: Es steigert unser Selbstvertrauen und ermöglicht Lernen und Entwicklungschancen. Das Zutrauen einer anderen Person kann uns immens wachsen lassen und uns – freiwillig oder unfreiwillig – aus unserer Komfortzone locken.
Sind Sie jemand, der andere in ihrem Wachstum unterstützt? Sind Sie ein Lehrer, eine Lehrerin, der oder die Schüler:innen aus ihrer Komfortzone lockt? Müssen Sie hin und wieder Kinder und Jugendliche “auffangen”, die sich selbst mehr zutrauen als sie noch können? Gratulation, Sie spielen auf der Lernkurven-Klaviatur! Sie achten darauf, was Ihre Schüler:innen brauchen und schlagen die entsprechenden Töne an: einfache Aufgaben geben, damit Lernende Sicherheit und Selbstvertrauen gewinnen, und herausfordernde, die Lernchancen und Wachstum ermöglichen.
Zwischen gesundem Zutrauen und lähmender Überforderung
Es ist ein schmaler Grat zwischen gesundem Zutrauen und ängstigender Überforderung. Lehrende wollen Lernende nicht in die lähmende Panic Zone bringen. Zugegeben, bei 25 oder 30 Schülerinnen und Schülern in einer Klasse ist es eine komplexe Aufgabe, alle Einzelnen genau an ihrer Lernkurve zu erwischen. Doch der Aufwand lohnt sich! Erfolgreich bewältigte Herausforderungen machen Freude. Diese lassen Kinder und Jugendliche wachsen und stärken ihr Selbstvertrauen. Sie erleben sich als selbstwirksam und fähig. Sie sind stolz auf ihre Leistung und ihren Lernweg. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wächst.
Trauen wir Kindern mehr zu! Auch und vor allem in der Schule!
Den Rahmen abstecken: Balance aus Freiheit und Sicherheit
Lernen braucht einen Rahmen, der gleichermaßen Freiheit und Sicherheit gibt. Freiheit für die Lernenden, die sehr selbständig unterwegs sind. Sicherheit für diejenigen, die hier und da noch Unterstützung benötigen. Scrum4Schools ist so ein Rahmen: Die schülerzentrierte, Scrum-inspirierte Lernmethode ermöglicht Lehrerinnen und Lehrern, mit „Sicherheit vs. Freiheit“ zu experimentieren und so ihre Schülerinnen und Schüler individuell zu begleiten und zu fordern. Scrum4Schools ist eine agile Lernmethode, bei der Lernteams innerhalb eines festen Rhythmus Aufgaben selbstorganisiert lösen. Die einzelnen Lernschritte werden von den Teams dabei selbständig geplant. Der Lehrende – wir nennen ihn Lerncoach – legt das Lernziel fest und steht den Schülerinnen und Schülern beratend zur Seite.
Scrum4Schools erlaubt den Lehrenden, sich schrittweise an das richtige Ausmaß von Freiheit heranzutasten. Zur Einführung der Methode empfehlen wir, eher mehr als weniger Lernschritte vorzugeben. Während in einer höheren Schulstufe der Auftrag “Halte eine Präsentation über die verschiedenen Klimazonen!” ausreichen kann, können Jüngere unterstützt werden durch die Vorgabe einzelner Lernschritte, wie z.B. “Recherche über die fünf Klimazonen, Herausarbeitung von jeweils drei Charakteristika, Finden von typischen Bildern aus den jeweiligen Klimazonen, Erstellung eines Posters für die Präsentation”. Je besser die Methode erlernt ist, desto selbständiger werden die Schülerinnen und Schüler und desto mehr Freiheit und damit Raum für Eigenverantwortung kann der Lerncoach einräumen.
Keine Angst vorm Scheitern
Und was ist, wenn es trotzdem nicht klappt? Dann sagen wir: „Juhu, eine Lernchance!“
Unsere Erfahrung zeigt aber, dass Lehrer:innen oft positiv überrascht sind davon, wie schnell ihre Schülerinnen und Schüler die Methode verstehen und mit ihrer Freiheit und der Selbstorganisation zurechtkommen.
Wann haben Sie sich getraut, Ihren Schüler:innen noch mehr zuzutrauen? Wann sind Sie positiv überrascht worden, als Sie ihnen mehr zugetraut haben? Ich freue mich auf Ihre Erfahrungsberichte und Kommentare!
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