von Gastautor Patrick Krauß I

Unter Lehrkräften jeglicher Schulformen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis besteht Einigkeit darüber, dass die Notengebung eine herausfordernde Aufgabe darstellt.
Wieso den Prozess bis zum Resultat nicht einfach verschriftlichen? „Zu viel Aufwand“, könnte nun der erste Impuls aus Lernbegleitungssicht sein. Mit der nötigen Struktur zur Dokumentation lohnt sich der Aufwand aus meiner Sicht allemal. Mit gängiger Software, wie Word und Excel und dem Verwenden von Serienbriefen lassen sich auch hierbei arbeitserleichternde Lösungen finden.
Apropos, wieso Lernbegleitung? Auch hier eine so einfache wie bedeutungsvolle Antwort: weil die Kinder und Jugendlichen von uns im Lernen begleitet werden, so begleiten wir sie auch im Bewertungskontext.
Die Transparenz wird erhöht, die Nachvollziehbarkeit steigt bei allen Beteiligten und das Wichtigste: die Kinder und Jugendlichen stehen im Zentrum von Schule, fühlen sich gesehen und wertgeschätzt.
So habe ich es über Jahre hinweg an der Integrierten Gesamtschule Süd in Frankfurt am Main getan und gehe diesen eingeschlagenen Weg im Erasmus Bildungshaus in Offenbach am Main nun weiter. Für alle Fächer gilt hier, dass zur Orientierung auf Kompetenzen geschaut wird.
Außerdem diskutieren wir an meiner Schule die Bewertung der Kinder und Jugendlichen im Team (Fachteam, Tutorenteam, Partnerklassenteam) und legitimieren die Bewertung dadurch auch ein Stück weit. Bei der Kommunikation der Bewertung verwenden wir wertschätzende und konstruktive Sprache.
Schließlich liegt der Fokus auf der Entwicklung und auf den erworbenen Kompetenzen der Schüler:innen und ihren Potenzialen.
Auf dieser Basis wird die pädagogische Freiheit der Bewertung gewährleistet, indem auch individuelle Vereinbarungen getroffen werden können: Lernprodukte (Ersatzleistungen), andere Fachinhalte (Projekte, Lektüren, Präsentationen), andere Methoden, andere Lernwege, verkürzte Lernbausteine, fächerübergreifende Inhalte. Dabei spielt sowohl die Qualität als auch die Quantität der Ergebnisse eine Rolle. Dazu gehören die Projekte, die Blöcke des selbstorganisierten Lernens und der individuelle Lernprozess, der auch durch fächerübergreifende Kompetenzen gefördert wird.
Wir gewichten die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und individuellen Herausforderungen als Bezugsnorm insgesamt stärker. Die Individuelle Lernwege stellen wir mit anderen Lernwegen gleich und durch wiederkehrende Reflexionsprozesse wird die Selbstwahrnehmung der Lernenden geschärft.
Um einen Transformationsprozess an der eigenen Schule anzustoßen, hat meine Erfahrung gezeigt, dass die Mitnahme aller Beteiligten das Wichtigste ist! Hier kann auch eine Begleitung von außerschulischen Institutionen Sinn machen. An der IGS Süd haben wir mit Scrum4Schools ein Projekt zu den UN-Nachhaltigkeitszielen mit 500 Schüler:innen organisiert und durchgeführt, von dem die Schule noch heute profitiert. Am Erasmus Bildungshaus lassen wir uns von enenpro begleiten. Dadurch werden die unterschiedlichen Bedarfe und Bedürfnisse der Lernenden, der Erziehungsberechtigten und der Lehrkräfte sowie Schulleitungen, gezielt und situativ miteinbezogen.
Aus der Berufswelt ist allseits bekannt, dass eine passende Selbsteinschätzung über Gelingen und Misslingen entscheidet. Aber genau wie in der Schule wird auch hier der Fremdeinschätzung von Leistung oftmals eine zu große Bedeutung zugeschrieben. Die gute Nachricht: Schulen (wie Unternehmen) können solche Hierarchien aufbrechen und Selbsteinschätzung als Reflexion über die Lernentwicklung jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken. Zusätzlich erhalten die Schüler:innen von uns eine Fremdeinschätzung.
Sollte der Fall eintreffen - und er trifft natürlich ein - dass unterschiedliche Wahrnehmungen vorherrschen, dann dient dies als Gesprächsanlass für das Vergangene und für die Zukunft, um konstruktive Vereinbarungen zu treffen.
Der Punkt ist, dass Leistungsbewertung nicht ausschließlich auf einer Fremdeinschätzung basieren sollte, sondern die individuellen Perspektiven der Schüler:innen auf ihren eigenen Lernprozess aktiv und bewusst von uns einbezogen und anerkannt werden.
Können wir nicht? Vielleicht „noch“ nicht. Bei der nächsten Konzeption einer Unterrichtsreihe formuliert ihr sicherlich die zu erwerbenden fachlichen Kompetenzen, dazu berücksichtigt ihr die überfachlichen Kompetenzen und sammelt dies gebündelt in einem Selbst- und Fremdeinschätzungsbogen, fertig ist der Ziffernersatz. Gleiches formulieren wir im Halbjahr und zum Schuljahresende als individuellen Lernentwicklungsbericht.
Unsere Schüler:innen sitzen nach einer Bewertung nicht da und weinen, denn sie können verstehen, nachvollziehen und respektieren, weshalb wir zu dieser oder jener Einschätzung gekommen sind. Natürlich kommen manchmal die Fragen zur Notenübertragung oder zum Vergleich. Herr Krauß, was wäre das als Note? Im Vergleich zu XY, bin ich besser oder schlechter? Diese Fragen zu beantworten macht mir mittlerweile große Freude, denn Noten haben wir an meiner Schule keine und was es nicht gibt, das können wir nicht vergeben. Und da alle Schüler:innen einen eigenen Selbst- und Fremdeinschätzungsbogen mit individueller Bemerkung der Lernbegleitung erhalten, sinkt durch die Steigerung des Fokus auf die eigene Leistung der Fokus auf das Vergleichen mit den Mitschüler:innen.
Rein rechtlich dürfen alle hessischen Schulen auf Ziffernnoten verzichten. Es bedarf meines aktuellen Kenntnisstandes lediglich einer vergleichbaren Rückmeldungsform und die Anschluss- als auch Abgangsfähigkeit muss gegeben sein. Unser Kollegium an der IGS Süd war geprägt von Offenheit, Neugierde und pädagogischer Überzeugung in Kernpunkten die Schule „anders“ zu machen. Die Eltern und Erziehungsberechtigten stellen hinsichtlich der Bewertung weiterhin die gleichen Fragen wie vor fünf Jahren und es bleiben die gleichen Antworten, wie in diesem Blog beschrieben. Erklärungen und Erläuterungen helfen den Erwachsenen ungemein, da sie Schule nie anders kennenlernen durften. Viele von Ihnen erzählen uns, dass sie jetzt auch noch einmal gerne Schüler:innen wären.
Im Erasmus Bildungshaus erlebe ich gerade, wie ein Mädchen, das bereits tolle Leistungen in der Grundschule zeigte, nochmal regelrecht aufblüht, weil sie nun selbst entscheidenden kann, wann sie einen Test schreibt, denn sie geht ihren eigenen, individuellen Lernweg. Hier im Bildungshaus bieten wir „Bildung aus einer Hand“, von der Kita bis hin zum Abitur, das ist unser Ziel.
Zum Abschluss ein Tipp, der euch allen helfen kann, an vielen Stellen eines solchen Prozesses oder Weges: Mut & Vertrauen!
Über Patrick Krauß
Laut dem Pariser Malort sind wir Menschen Individuen, die spielen wollen - ein Leben lang - so nehme ich ebenfalls das Leben und meine Tätigkeit in der Schule an. Herausforderungen sind dazu da sie zu bewältigen und zu reflektieren. Kinder sollen wertschätzende Begleitung erfahren. Wir Menschen können als Gemeinschaft und in Kooperation großartiges erreichen. Sieben Jahre war ich am Aufbau und der Ausgestaltung der IGS Süd in Frankfurt Sachsenhausen beteiligt. Aktuell baue ich in leitender Funktion die Erasmus IGS im Bildungshaus in Offenbach auf. Meine wunderbare Frau und meine tollen Kinder geben mir Energie, Freude und Entspannung.
Du willst im Unterricht ebenfalls mit Scrum4Schools arbeiten?
Dann komm zu einem unserer Methodentrainings und erfahre, wie du als Lehrkraft deine Schüler:innen mit Scrum4Schools befähigen kannst, in selbstorganisierten Lernteams zu arbeiten. Das Training bietet einen idealen Einstieg in agile Lernformate. Aktuelle Termine findest du auf unserer Homepage.
Comments